Trompetensolo

Er hat es nicht leicht gehabt bisher. Fredi. Aufgewachsen als jüngster Spross einer wohlhabenden Großfamilie und in herzlicher Atmosphäre,  hat er doch nie so recht  Boden unter den Füßen gespürt.
Vielleicht sind schon zu viele Räume möglicher Identifikation von seinen sechs größeren Geschwistern besetzt gewesen, als er hier angekommen ist, vielleicht hat er es einfach als sein Lebensrätsel mitgebracht: jedenfalls findet er keinen Ort, an dem er sich zuverlässig erkennt und sagen könnte: „Hier, das bin ich.“ Seine große Zartheit spielt gewiss eine wichtige Rolle dabei.
Er ist nicht wirklich schüchtern, was die anderen können, das kann er auch! Aber wenn er nach vorne tritt, um sich zu zeigen, tut er das als Clown, als Störer, als Normverweigerer, nie als er selbst.
In der Schule bleibt er deswegen hinter den anderen zurück, wenn ihm etwas gelingt, erträgt er kein pures Lob, eine Mischung aus Tadel und Lob geht so grade, da hört er zu und prüft, ob er gemeint sein könnte. Die meisten seiner Lehrerinnen bringt er zur Verzweiflung, die geringste Aufgesetztheit ihres Verhaltens, die leiseste Auslenkung aus der Mitte ihrer Authentizität spürt er sofort und beantwortet sie mit Verweigerung.

Frau Apertus ist seine Klassenlehrerin. Im Laufe des zweiten Schuljahres begreift sie ihn. Sie verzichtet auf alle Versuche, sein Verhalten durch äußere Maßnahmen zu korrigieren und nimmt statt dessen Kontakt mit ihm auf. Ganz langsam gehen sie aufeinander zu, es gibt lange Phasen des Stillstands. Aber manchmal empfindet er jetzt Freude an seinen Leistungen.
Da fasst die Lehrerin einen Plan. Sie unterstützt die Eltern in ihrem Vorhaben, ihn Trompetenunterricht nehmen zu lassen, was er sich gewünscht hat.  Und verspricht ihm, einmal in der Woche auf der Orgelempore der zur Schule gehörigen Kirche mit ihm das „Trumpet Voluntary“ von Henry Purcell zu üben,  mit dem Ziel, es gemeinsam beim  Abschlussgottesdienst am Ende der vierten Klasse vor den versammelten Schülern, Eltern und Lehrern aufzuführen.
Er stimmt zu.  Das ist alles noch sehr weit weg,  kein Risiko. Mitte des vierten Schuljahres aber gibt er auf. All die Leute,  er will das nicht. Die Lehrerin weiß, dass Druck ihn nur weiter in die Verweigerung führen würde. Sie lassen den Plan fallen. Die Lehrerin weiß aber auch,  wie wichtig ein solcher Auftritt für ihn sein könnte, bewahrt den Gedanken und hat einen Plan B. Genau zwei Tage vor dem Abschlussgottesdienst spricht sie ihn an:
„Hey Fredi, wir wollten ja mal zum Schulabschluss gemeinsam was aufführen,  hättest du noch Lust, wie wär’s mit einem Überraschungscoup, wir sagen niemandem was und spielen einfach?“
Er lässt sich tatsächlich von der Idee begeistern, bekommt dann aber Zweifel: „Frau Apertus, ich kann aber das Stück nur zur Hälfte! “
„Wunderbar“, gibt ihm die Lehrerin zurück, „dann spielen wir diese Hälfte, und dann dieselbe Hälfte einfach nochmal, dann haben wir auch ein ganzes Stück! “
Überraschubgscoup mit zwei Klebehälften, das spricht seine Sprache, er stimmt erneut zu.

Als es endlich soweit ist, sie sind die Treppe zur Orgelempore hinaufgestiegen, die Lehrerin will gerade die Klinke zur Emporentür  hinunterdrücken, da knickt er doch wieder ein: „Ich mach’s nicht“, sagt er nur tonlos und hat sich schon umgedreht,  um die Treppe rasch wieder  hinunterzulaufen, da sieht er die Hände der Lehrerin:
„Frau Apertus, du zitterst ja!“, sagt er fassungslos, „hast du auch Angst?“
„Angst, ich?“ antwortet die Lehrerin, und da weiß sie: jetzt hat sie gewonnen, Plan B geht auf: „Natürlich hab‘ ich Angst, was glaubst du denn? Richtig gut geübt haben wir nicht, stimmt’s? Vielleicht werde ich mich verspielen. Aber hör‘ mal: das ist ganz normal, jeder, der einen richtigen Auftritt hat, hat Angst!“
Fasziniert schaut er sie an und sie erwischt den einen Moment:
„Und, was ist jetzt, gehen wir rein?“
„Wir gehen rein“, sagt er ganz ruhig, als habe er ihr gesagt: „Das ist ganz normal“.

Und dann spielt er sein Stück. Sie hat sofort, nachdem sie die Empore betreten haben, die Orgel bereit gemacht, er hat seine Trompete ausgepackt und schon ist das Zeichen von ihr gekommen: Los!
Und er tritt vor, geht einfach diesen einen unmöglichen Schritt über den Abgrund, für den er noch keine Worte hat, den er aber, hätte er welche, wohl  „Todesangst“ nennen würde, geht über ihn hinweg und findet an demselben Ort, den er sonst so fürchtet, nur eine freundliche, ruhige Kraft, die keinen Zweifel an ihm hat. Da spürt er zum ersten Mal in seinem Leben etwas, das er nicht mehr für möglich hat halten können: „Hier, das bin ich!“
Ganz klar, ruhig und schön spielt er und unendlich zart.
Seine Eltern unten in der Kirchenbank fließen über vor Glück, als sie ihn spielen hören und der Applaus der Zuhörer ist lang und anhaltend.

Langsam setzt er die Trompete ab und packt sie schließlich wieder in den Koffer.
„Du, Frau Apertus?“
„Hm?“
„Meinst du, ich soll die Trompete jetzt mit runter in die Kirche nehmen?
„Na klar mein‘ ich das, Fredi!“
„Aber da sehen doch die Leute, dass ich es war, der gespielt hat!“
„Das sollen sie auch, Fredi, das sollen sie auch sehen!“

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